Zugang zum Recht ohne legalen Aufenthaltsstatus
Blogbeitrag von Alessandro de Filippo vom 15.02.2023

Wenn eine Anzeige für das Opfer zum Risiko wird

Wenn eine Anzeige für das Opfer zum Risiko wird

Werden Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus Opfer von Straftaten, haben sie Rechtsanspruch. Um ihre Rechte durchzusetzen, können sie theoretisch − wie jede andere Person − Anzeige erstatten. Viele von ihnen verzichten jedoch auf eine Anzeige. Sie haben Angst, wegen ihres irregulären Status verurteilt und darauffolgend ausgewiesen zu werden. Das ist ein Problem. Welchen Zugang zum Recht haben Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus wirklich?

Das Fehlen einer gültigen Aufenthaltsbewilligung macht diese Menschen verletzlich und zur Zielscheibe von unterschiedlichen Formen der Kriminalität. Insbesondere Opfer von Kreditwucher, das heisst Opfer eines Systems von Privatkrediten zu überhöhten Zinsen, Opfer von Mietwucher, extremer Arbeitsausbeutung und Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt sind von dieser Situation betroffen.

Alessandro Di Filippo
Alessandro de Filippo

Alessandro de Filippo ist Leiter des HEKS-Projekts «Permanences volantes» in Genf.

Opfer häuslicher und sexueller Gewalt trifft es im Speziellen.

Die Opfer geraten in einen Clinch, ob sie Anzeige erstatten und versuchen sollen, sich zu verteidigen oder davon abzusehen. Allerdings kann − unabhängig von ihrer eigenen Entscheidung – ein Verfahren gegen sie eingeleitet werden. Zum Beispiel, wenn nahestehende Personen oder jemand vom Haus nebenan Meldung erstatten und die Polizei daraufhin ermittelt. In beiden Fällen ändert sich die Sachlage nicht. Behördenmitarbeitende und Personen im Beamtenstatuts sind dazu verpflichtet, alle Vergehen und Straftaten anzuzeigen, von denen sie im Rahmen ihrer Amtsausübung Kenntnis erlangen. Dazu gehört auch der illegale Aufenthalt. Und genau dort liegt das Problem.

Die Bedenken, sich an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden, sind begründet.

Dass Personen ohne geregelten Aufenthaltsstaus Angst haben, sich an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden, ist legitim. Tatsächlich geht beim Einreichen einer Strafanzeige fast immer auch eine Anzeige und Verurteilung aufgrund des illegalen Aufenthalts einher. Die Opfer sind gezwungen, bei den zuständigen Behörden um ein Gesuch für die Regulierung ihres Status zu stellen. Dieses wird in den meisten Fällen abgelehnt. Daraufhin folgt ein Ausschaffungsentscheid, selbst bei laufendem Strafverfahren. Das ist leider die Realität vieler Frauen, die sich ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten und Opfer von häuslicher oder sexueller Gewalt geworden sind. Obwohl sie von Unterstützungsnetzwerken betreut werden und das Opferhilfegesetz beanspruchen können, erhalten sie in den meisten Fällen keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Denn sie erfüllen die Kriterien für die Legalisierung nicht.

Die Strafanzeige ist systematisch von der Prüfung des fehlenden Aufenthaltsstatus zu trennen.

Der einzige Weg, um die Opfer zu schützen, ist die Strafanzeige systematisch vom Umstand der fehlenden Aufenthaltsbewilligung zu trennen. Genauer gesagt: Erstattet eine Person, die keinen geregelten Aufenthaltsstatus hat und Opfer einer Straftat wurde, bei der Polizei oder direkt bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige, sollte deren Aufenthaltsstatus nicht berücksichtigt werden beziehungsweise massgebend sein.

Wie können Opfer besser geschützt werden?

HEKS fordert eine politische Entscheidung, dass die Leidtragenden als Opfer betrachtet und behandelt werden. Unabhängig davon, welchen Aufenthaltsstatus das Opfer hat. Diesbezüglich wird entgegengehalten, dass Justiz und Polizei bei einem fehlenden Aufenthaltsstatus zu einer Anzeige verpflichtet sind. Was nachvollziehbar, aber unakzeptabel ist. Angesichts dessen, dass es sich um eine Straftat handelt, erachten wir das Verhalten von den Behörden als scheinheilig.

Allgemein ist bekannt, dass in der Schweiz ungefähr zehntausend Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus leben. Mehrheitlich sind es Frauen, die in der Hauswirtschaft tätig sind. Deren Beitrag zur Wirtschaft und zum sozialen Gleichgewicht ist relevant. Der Bundesrat anerkennt ihre Existenz und gewährt ihnen eine Sozial- und Krankenversicherung – ohne sie anzuzeigen. Diese «Sans Papier»-Personen, die hier wohnen, arbeiten und zum allgemeinen Wohlstand beitragen und Opfer von schwerwiegenden Straftaten werden, können sich aber nicht an die Justiz wenden, ohne Gefahr zu laufen, eine Abschiebung zu riskieren.

Sollte Gerechtigkeit nicht für alle gleich sein?

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Agenda 2030 in der Heks-Projektarbeit
Agenda 2030

Die «Agenda 2030» der UNO ist ein globaler Plan zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bis 2030. In ihren 17 Zielen «Sustainable Development Goals» werden ökonomische, soziale und ökologische Dimension einer nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt. Agenda 2030 und ihr Leitprinzip «Niemanden zurücklassen» bilden einen wichtigen Referenzrahmen der Arbeit von HEKS im Ausland und in der Schweiz.

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