BühnenBern  «Hunger. Ein Feldversuch»
HEKS
Blogbeitrag von Tina Goethe vom 20.10.2022

Hunger: was tun?

Hunger: was tun?

An der Premiere des Dokumentationstheaters «Hunger. Ein Feldversuch» von BühnenBern kann das Publikum sich mit allen Sinnen auf das Thema «Hunger» einlassen. Mit den brutalen Auswirkungen und ernüchternden Ursachen für den weltweiten Hunger, wie auch mit vielversprechenden Lösungsansätzen dagegen. Das Publikum wird so Teil eines Feldversuchs, der Auswege aus der Ernährungskrise erfahrbar macht.

Wir stehen in einem dunklen Raum. Beleuchtet sind nur die im Raum gleichmässig verteilten Arbeitstische aus Industriepaletten und die sattgrünen Hochbeete mit Kräutern und Gemüse. Das Publikum weiss nicht so recht, wohin mit sich, denn an diesem Theaterabend sind Bühne und Zuschauerraum nicht voneinander getrennt. Das ist Programm. 

Zu Beginn, wie bei jeder Debatte über den globalen Hunger, werden uns auf Bildschirmen die Zahlen präsentiert. Über 800 Millionen Menschen leiden an Hunger. Es sei, wird die UNO zitiert, «das grösste lösbare Problem der Welt». Das klingt schlimm und gut zugleich. Denn es ist ja immerhin lösbar.

Tina Goethe
Tina Goethe

Tina Goethe ist Co-Leiterin Entwicklungspolitik & Themen im Bereich Globale Zusammenarbeit.

Nur: Warum ist es noch immer nicht gelöst? Wenn doch schon heute genug produziert wird, um alle Menschen ausreichend zu ernähren?

Das Publikum wird auf einzelne Arbeitsstationen aufgeteilt. Ich lande an einem Tisch, auf dem getrocknete Halme mit kleinen Schoten liegen. Wir werden von der Schauspielerin und Animatorin dieser Arbeitsstation aufgefordert, das Saatgut aus den Schoten zu puhlen und in Teebeutel abzufüllen. Es soll dann an einem anderen Tisch am gleichen Abend noch gesät werden. Und während wir also Saatgut gewinnen, erklärt sie uns, dass das, was wir da gerade tun, wahrscheinlich illegal ist. Denn immer mehr Saatgut ist mit geistigen Eigentumsrechten wie Sortenschutz oder Patenten belegt, die den Züchter:innen – meistens sind das grosse Agrarfirmen – mehr oder weniger die alleinige Verfügungsgewalt über das Saatgut geben. Bäuerinnen und Bauern dürfen über solcherlei sortengeschütztes Saatgut nach der Ernte nicht frei verfügen, dürfen es nicht nochmals aussäen, tauschen oder verkaufen. Vor allem die Saatgutindustrie, wie Syngenta, setzt sich für die Ausbreitung von Sortenschutz- und Patentgesetzen ein, auch in Ländern des globalen Südens. Die Schauspielerin erzählt auch über den Widerstand von Bäuer:innen gegen diese Gesetze. Und in einem Video, das wir später am Abend sehen, erzählt Marlén Hernandez García aus Honduras, wie sie ihr eigenes Saatgut nutzt, tauscht und weiterentwickelt. Und sich und ihre Familie mit ökologischen Methoden gesund ernähren kann. 

Gleichzeitig Informationen und Widersprüche: Wie damit umgehen?

Für mich ist es eine eigenartige Erfahrung, der Schauspielerin zuzuhören. Denn während sie über die Bedeutung von Saatgut spricht, spielt sie mich. Ich höre Sätze, Erklärungen und Argumente, die ich vor Monaten in einem ausführlichen Gespräch mit dem Regisseur und dem Dramaturgen dieses Stückes formuliert habe. Wie mit mir haben die beiden zahlreiche weitere Gespräche für ihre Recherche zum Stück geführt: mit Bäuerinnen und Bauern aus der Schweiz, Honduras und Sierra Leone, Lobbyisten, Vertreter:innen von Syngenta, Soziologinnen, Agronomen, Biologen mit Aktivist:innen aus Indien und der Schweiz und weiteren Expert:innen. Ihre Perspektiven und Positionen sind auf unterschiedliche Weise in dem Stück präsent. Und während wir als Publikums-Untergruppe von einer Station zur anderen geführt werden, Gemüse für eine Suppe schneiden, die Hochbeete giessen oder biologischen Dünger mit Brennnesseln anrühren, lauschen wir den Erläuterungen eines Agrarhändlers, warum Spekulation mit Getreide nicht nur schlecht ist oder wie die solidarische, lokale Landwirtschaft allen zugutekommen kann. Gleichzeitig hören wir auch immer etwas von dem, was an den anderen Tischen zur Sprache kommt. Der Theaterraum ist erfüllt mit einer Vielzahl an Stimmen und Positionen, einer regelrechten Kakophonie, die nicht zusammen zu kommen scheinen. Denn das ist die Rolle, die der Feldversuch uns als Publikum zuschreibt: Was machen wir mit den Informationen, und vor allem mit den Widersprüchen, die wir hören, fühlen und sehen? 
Dokumentationstheaters «Hunger. Ein Feldversuch» von BühnenBern
BühnenBern

Hunger wird endlich zu dem gesellschaftspolitischen Thema, das uns alle angeht.

Am Schluss lande ich an einem Tisch voller Kressebeete. Der Schauspieler, ganz offensichtlich stellt er einen Vertreter von Syngenta dar, erklärt uns die Unverzichtbarkeit von Pestiziden: «Entweder ihre Kinder gehen zur Schule, oder sie jäten Unkraut.» Er erklärt auch, warum es unproblematisch sei, in der Schweiz und Europa verbotene Pestizide an Länder wie z.B. Brasilien zu liefern. Schliesslich hätten die Landwirte dort andere Bedürfnisse. Unter korrekter Anwendung der Schutzmassnahmen sei das auch kein Problem. Und dann wird es konkret: Eine Zuschauerin wird gebeten, sich einen Schutzanzug, Stiefel, Maske und Schutzbrille anzuziehen. Sie erhält genaue Vorschriften, wie sie das zu tun habe, um dann, sicher vor Vergiftungen durch Kontakt mit dem Pestizid, die Kresse zu besprühen. Wir fühlen alle mit ihr, wie heiss es in dem Anzug sein muss (der übrigens nur einmal anwendbar ist und 27 Euro kostet). Spätestens beim sicheren Ausziehen des Anzugs, Waschen der Stiefel und Handschuhe wird allen rund um den Tisch klar, dass diese Vorsichtsmassnahme in einem tropischen Land mit schlechtem Zugang zu Wasser von armen Bäuerinnen und Bauern nicht einzuhalten ist. Wir erfahren, dass Syngenta seit Jahren über die Vergiftungen und Krankheiten Bescheid weiss. Doch die fraglichen Pestizide sind schlicht zu profitabel, um sie vom Markt zu nehmen.

Wissen wir am Ende des Abends, wie «das grösste lösbare Problem der Welt» zu lösen ist? Ja und Nein. Denn wir haben an den Stationen und anhand der Videos erfahren, wie ökologisch und gerecht Lebensmittel produziert werden können. Wir haben aber auch erfahren, wie die wirtschaftlichen Strukturen und Profitinteressen echten Veränderungen in unserer Art, Lebensmittel zu produzieren, zu verarbeiten und zu konsumieren, immer wieder machtvoll im Wege stehen. 
Ich verlasse das Theater dennoch in Hochstimmung. Denn es ist ungeheuer wertvoll, dass das Thema Hunger an solch prominenten Orten wie städtischen Theaterbühnen behandelt wird. So kann es endlich zu dem gesellschaftspolitischen Thema werden, das uns alle angeht. Das «grösste lösbare Problem der Welt» müssen wir gemeinsam lösen. 

Das Stück dauert ca. 2 Stunden und wird noch bis Ende Dezember in den Vidmarhallen der Bühnen Bern aufgeführt. Spieldaten und Tickets finden Sie hier.

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