75 Jahre HEKS - ländliche Entwicklung in Rumänien
HEKS
Interview mit Franz Schüle

Einer engagierten, tätigen Kirche nah

Einer engagierten, tätigen Kirche nah

Die Kirchliche Zusammenarbeit (KiZA) ist neben der Entwicklungszusammenarbeit und der Humanitären Hilfe das dritte Standbein der Auslandtätigkeit von HEKS. Ihre Anfänge reichen bis in die Gründungsjahre des Hilfswerks zurück. Franz Schüle hat die Entwicklung der KiZa in diesen 75 Jahren eine Zeit lang begleitet und massgeblich geprägt.

Artikel aus dem Magazin «handeln» vom August 2021
 
Interview Corina Bosshard
Foto HEKS / Bildarchiv
 

Franz Schüle, HEKS begann bereits ab 1948, mit Beginn des Kalten Krieges, in Osteuropa zwischenkirchliche Hilfe zu leisten. Du bist während deiner Tätigkeit für HEKS viel in die Länder hinter dem «Eisernen Vorhang» gereist. Wie hast du die Stimmung dort in jener Zeit erlebt?
 
Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Rumänien im Jahr 1984. Im Land herrschte eine unglaubliche Bedrücktheit, ein Klima der Angst. Die Menschen beobachteten sich gegenseitig. In Erinnerung geblieben sind mir vor allem die Bahnhöfe: Wenn wir mitten in der Nacht an einem Bahnhof ankamen, ein, zwei Glühbirnen die Bahnhofshallen beleuchteten und man fast nichts sah. Die Leute waren mit Säcken unterwegs, trugen Schuhe, die ihnen nicht passten – Sandalen im Winter und Moonboots im Sommer. All die Wanderarbeiter und Leute, die man hin- und herschob. Und in den Bahnhofs- hallen war nur dieses schlurfende Geräusch der Schuhe zu hören; niemand redete, weil man ja in der Öffentlichkeit kaum mehr redete. Eine sehr bedrückte Stimmung.
 
Wie konnte HEKS damals überhaupt zwischenkirchliche Hilfe leisten?
 
Eine eigentliche Aufbauarbeit in den kommunistischen Ländern durch ein westliches und zudem kirchliches Hilfs- werk war nur in der DDR und in Ungarn beschränkt möglich. In jener Zeit konnten wir nur kleine Brötchen backen. Wir brachten das Geld zum Teil selber mit und waren froh, wenn wir einer Gemein- de irgendwie helfen konnten, eine Kirche zu reparieren, die am Zerfallen war. Wir pflegten aber auch immer den Kontakt zu den offiziellen Kirchenleitungen, um über sie ein paar Projekte zu unterstützen und um ja nicht aufzufallen. Man wurde ja immer von der staatlichen Sicherheitspolizei überwacht.
 
Warum war die Zusammenarbeit mit kirchlichen Partnern so wichtig?
 
Wenn wir Menschen in schwierigen Situationen helfen wollten, dann musste das über die Kirchen geschehen. Die Kirche war für die Menschen damals ein Zuhause, nicht wie der sozialistische Staat. So war das damals in allen sozialistischen Ländern: In den Kirchen fand man das Menschliche, die Tiefe. Die Unterstützung der Kirchgemeinden mittels Besuchen, die Kontaktpflege und eine bescheidene materielle Hilfe waren für die Menschen äusserst wichtig.
Nach der Wende 1989 wendete sich dann aber das Blatt ...
 
Ja, ab 1990 wurde die Arbeit von HEKS in Europa ganz neu ausgerichtet. Die Aufbauhilfe in Osteuropa wurde bestim- mend. Weil wir in Rumänien und anderen Ländern langjährige, vertrauenswürdige Kontakte zu den Kirchen aufgebaut hatten, ergab sich für uns die grosse Chance, nach der Wende auch wirklich Partner an unserer Seite zu haben, mit denen wir sofort «durchstarten» konnten.
 
Du hast dann den ersten grossen Hilfstransport der Schweizer Hilfswerke in Rumänien organisiert und begleitet.
 
Das war eine erfreuliche, aber auch zwiespältige Sache, als wir mit fünf vollgepackten Lastwagen quer durch Rumänien fuhren und die Hilfsgüter im Bezirk Mures in Kirchen ausluden. Die Solidarität in der Schweiz war riesig und es sollte daher ein zweiter Hilfstransport folgen, doch ich wollte und konnte nicht mehr mitmachen. Die Leute in Rumänien brauchten etwas anderes als Milchpulver, alte Kleider oder Gulaschsuppe in Konservendosen. Was sie brauchten, war Unterstützung beim Aufbau von Bäckereien, Mühlen und einer landwirtschaftlichen Produktion, die nicht von korrupten Leuten geführt wurde. So entstand das landwirtschaftliche Förderprogramm von HEKS in Rumänien. Und bald reisten die ersten rumänischen Jungbauern für landwirtschaftliche Praktika nach Graubünden. Was in der Landwirtschaft begann, wurde bald zu einem Finanzierungsprogramm, das Kredite an verschiedenste Betriebe vergab, zum Bei- spiel an Landwirte, Käsereien oder Schreinereien. Dieses Kreditprogramm wurde so erfolgreich, dass es auf weitere Regionen ausgedehnt wurde und heute als Stiftung eigenständig funktioniert.
 
Ebenfalls in deine Zeit bei HEKS fällt der Jugoslawien-Krieg. Wie konnte HEKS dort Hilfe leisten und welche Rolle spielten die kirchlichen Kontakte?
 

Auch in Jugoslawien hatten wir langjähri- ge Kontakte zu den reformierten und zur orthodoxen Kirche in Belgrad. Als dann der Krieg ausbrach, begann das bis dahin mit Abstand grösste Nothilfeprojekt von HEKS. Wiederum hatten wir das Privileg, einen guten Partner vor Ort zu haben: ein ökumenisches Hilfswerk, das wir gemein- sam mit dem Ökumenischen Rat aufzu- bauen geholfen hatten. Dieses Hilfswerk konnte dann in ganz Ex-Jugoslawien, also in Serbien, Kroatien und anderen Landes- teilen, Unterstützung leisten, weil es als neutrale Organisation wahrgenommen und respektiert wurde. Es war essenziell in diesem unsäglichen Krieg, über alle Grenzen hinweg zu helfen, die Notleiden- den im Auge zu haben und nicht deren politische Haltung.
 

Portrait Franz Schüle
Zur Person
Franz Schüle

Franz Schüle wirkte als Pfarrer in Uster, bevor er 1982 zu HEKS wechselte und bis 1997 für die Zwischenkirchliche Hilfe in Europa mit Schwerpunkt Osteuropa verantwortlich war. Ab 2007 dann amtierte er für zehn Jahre als HEKS-Zentralsekretär. Während seiner Tätigkeit hat er das Leben der Menschen und der Kirchen im totalitären Europa vor der Wende, den Umsturz in Rumänien um Weihnachten 1989 und die Kriege in Ex-Jugoslawien miterlebt.

Du hast Theologie studiert und vor deiner Anstellung bei HEKS als Pfarrer gearbeitet. Du hast aber auch ein Teil- studium in Ökonomie absolviert und dich in der Drittwelt-Bewegung enga- giert. Wie wichtig war es dir, für ein kirchliches Hilfswerk zu arbeiten?
 
Es lag für mich nahe, etwas zu machen, bei dem ich meine Interessen und Erfahrungen zusammenbringen konnte. Ich arbeitete gerne bei HEKS, weil ich das, was als Botschaft in der Bibel steht, auch konkret leben konnte.
 
Welche Botschaft ist das für dich?
 

Menschen sollen sich mit Respekt, mit Liebe, mit Empathie begegnen. Und jeder Mensch ist als ein Geschöpf Gottes zu sehen, das es verdient, dass man ihm begegnet, es unterstützt und ermutigt. Von Menschen gesetzte Grenzen zwischen Rassen, zwischen Systemen, zwischen Ländern sind im Evangelium nicht etwas Wichtiges, nichts Endgültiges; Grenzen sind dazu da, überwunden zu werden. HEKS hat mit seiner Arbeit immer wieder bewiesen, dass das möglich ist.

 

Welches ist rückblickend einer deiner schönsten Eindrücke in der Zeit bei HEKS?

Davon gibt es viele. Die Wende in Osteuropa hautnah mitzuerleben war bewegend. Und dann sind da viele kleine Momente: Ich erinnere mich etwa an ein Altersheim in Rumänien, das ich 1984 auf einer meiner Reisen besuchte. Das Gebäude war eine Art doppelstöckiger Stall, in dem die betagten Menschen in Reihen auf Pritschen lagen – ein fürchterlicher Anblick. Im Laufe der Jahre konnte dort mit Unterstützung von HEKS ein Altersheim entstehen, wo Menschen heute in Würde alt werden können – und zwar nicht in erster Linie wegen unseres Geldes, sondern wegen unserer tüchtigen kirchlichen Partner. Das sind schon sehr beglückende Erlebnisse. Als ich dann als Zentralsekretär auch viele Projekte im Süden kennenlernen durfte, war das für mich immer wieder tief beeindruckend: Was Menschen in Not mit Engagement und wenig materiellen Ressourcen zustande bringen.

 

Was wünschst du HEKS und seiner Kirchlichen Zusammenarbeit für die Zukunft?

Ich bin froh, dass HEKS auch heute noch zu seinen evangelischen Grundwerten steht. Und dass es seine Arbeit fortsetzt, diese Linie weiterverfolgt, in der ich ein kleines Zwischenglied sein durfte. Diese Linie nahm im Zweiten Weltkrieg ihren Anfang und sollte weitergeführt werden. Denn ich glaube, dass Folgendes für die Kirchen ganz wichtig ist: Man fühlt sich der Kirche nahe, wenn sie engagiert und tätig ist.
 

Die Kirchliche Zusammenarbeit

Die «Zwischenkirchliche Hilfe» war das erste Mandat, das die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) 1946 an HEKS übertrug. Gemäss diesem Mandat ist die Zusammenarbeit mit reformierten Kirchen und ihren Organisationen auf bestimmte geografische Gebiete beschränkt. Der grosse Teil der Partnerkirchen befindet sich in Mittel- und Osteuropa. Darunter bildet die Familie der ungarisch-sprachigen reformierten Kirchen in Ungarn, der Slowakei, der Ukraine (Transkarpatien), Rumänien (Siebenbürgen) und Serbien (Vojvodina) die grösste Gruppe. In Tschechien arbeitet HEKS mit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder zusammen, während die Waldenserkirche in Italien der einzige Partner in Westeuropa ist. Seit 2018 wurde die KiZa auf den Mittleren Osten und die Arbeit mit reformierten Partnern im Libanon und in Syrien ausgeweitet.
 
Während in den Anfangsjahren Infrastruktur-Beiträge und der Stipendien- und Literaturdienst im Vordergrund der Kirchlichen Zusammenarbeit standen, unterstützt, berät, fördert und begleitet HEKS die reformierten Partnerkirchen heute vor allem beim Aufbau eines lebendigen kirchlichen Gemeinwesens und bei ihrem diakonischen Auftrag. HEKS setzt sich dafür ein, dass reformierte Kirchen in ihren Ländern als zivilgesellschaftlich relevante Organisationen wahrgenommen werden, die sich insbesondere für die Schwächsten und Benachteiligten einsetzen. Mittels Austauschprogrammen und Veranstaltungen fördert HEKS zudem die Solidarität und den Dialog zwischen reformierten Kirchgemeinden in der Schweiz und den Partnerkirchen im Ausland.
 

Weitere Artikel dieser Ausgabe

Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung.

Ihre Spende wird im Kleinen Grosses bewirken!

CHF
90
CHF
150
CHF
250
CHF
Bestimmen Sie selbst, wieviel Sie spenden möchten.
Ich spende für:
Kirchliche Zusammenarbeit