«Ich verurteile niemanden, der geht»

Emese Buksa arbeitet für die Stiftung «Diakonia» der reformierten Kirche in Rumänien. Die 27-Jährige war zu Gast an der jährlichen HEKS-Tagung für Kirchliche Zusammenarbeit. Im Interview spricht sie darüber, weshalb so viele junge Menschen ihr Heimatland Rumänien verlassen und was dagegen getan werden könnte.

Interview: Britta Gfeller

Emese Buksa, Sie halten in der Schweiz Vorträge zum Thema «Gehen oder bleiben». War es für Sie je eine Option, Ihr Heimatland Rumänien zu verlassen?

Nein, ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht. Natürlich stelle ich mir ab und zu vor, wie es wäre, in einem anderen Land zu leben. Doch ich entscheide mich jedes Mal dafür, in Rumänien zu bleiben. Ja, wir haben Probleme, doch welches Land hat die nicht? Und ich habe so viel, was mich hier hält.

Was zum Beispiel?

Schon früh habe ich mich bei der christlichen Jugendbewegung YMCA engagiert. Dadurch habe ich eine tolle Gemeinschaft gefunden, die mir viel Halt gibt. Mein soziales Umfeld ist einer der wichtigsten Aspekte, die mich in Rumänien halten. Ein weiterer Grund ist meine Arbeit bei «Diakonia», die mir viele Möglichkeiten bietet und mir einen Sinn gibt. Ausserdem fühle ich mich verantwortlich für mein Heimatland, für die Pflege der Traditionen, für meine Muttersprache, für meine Wurzeln. Rumänien ist ein wirklich schönes Land.

Emese Buksa, Mitarbeiterin der Partnerorganisation «Diakonia»
HEKS

Aber Sie kennen Menschen, die ausgewandert sind. Was sind ihre Gründe?

Ja, einige meiner Verwandten und Freund:innen haben Rumänien verlassen. Der Hauptgrund für die meisten ist, dass sie im Ausland mehr verdienen können oder dass sie bessere Job-Chancen haben. Weitere Gründe sind das bessere Gesundheits- und Bildungssystem in anderen Ländern. Meine Verwandten verliessen beispielsweise Rumänien, bevor ihre Tochter geboren wurde. Sie wollten ihrem Kind eine gute Schulbildung ermöglichen.

Können Sie verstehen, dass junge Menschen Rumänien verlassen?

Ja, ich verurteile niemanden, der geht. Auch wenn ich die Leute vermisse. Ich weiss, dass ich sehr privilegiert bin, und dafür bin ich dankbar. Ich habe meinen Platz in Rumänien gefunden. Längst nicht alle haben dieses Glück.

Je nach Schätzung leben 2 bis über 5 Millionen Rumän:innen im Ausland. Über 20 Prozent der Menschen, die in Rumänien geboren wurden, haben das Land verlassen. Oft schon in jungen Jahren. Welchen Einfluss hat das auf die Zurückgebliebenen?

Es ist sehr schwer für sie. Oft gehen junge Männer ins Ausland, um Geld für ihre Familie zu verdienen. Die Partner:innenund die Kinder bleiben zurück. Finanziell profitieren die Familien von diesem Arrangement, doch es ist für alle Beteiligten  hart, ihre Liebsten nur zwei- oder dreimal pro Jahr zu sehen. Ähnlich geht es Eltern, deren Kinder ausgewandert sind.

Wie geht es den Menschen, die das Land verlassen haben?

Auch für sie ist es oft nicht einfach. Vielen fehlt das soziale Umfeld. Ich kenne Menschen, die sich überlegen, zurückzukommen,  da sie eine Familie gründen möchten und dafür auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen sind.

Und welche Auswirkung hat die Abwanderung von jungen Leuten auf Rumänien?

Rumänien leidet unter grossem Fachkräftemangel. Das merken wir auch in unseren «Diakonia»-Projekten, die teilweise von HEKS unterstützt werden. Wir bieten einen Spitex-Dienst an – beispielsweise für Menschen, die kaum mehr Verwandte in Rumänien haben, die sich um sie kümmern können. Es wird immer schwieriger, Personal dafür zu finden, da es für Pflegefachpersonen und Mediziner:innen viel lukrativer ist, im Ausland zu arbeiten. Das Gleiche gilt unter anderem für Lehrpersonen oder Sozialarbeiter:innen.

Es bräuchte bessere Löhne, ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem.

Gibt es weitere Auswirkungen?

Ja, auch auf weniger greifbarer Ebene. Je mehr Menschen gehen, desto schwieriger ist es, eine Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und Traditionen weiterzugeben. Es ist kaum noch jemand übrig, der den künftigen Generationen von unserem Erbe erzählen kann. Das macht mich traurig.

Was denken Sie, was müsste sich ändern, damit weniger Menschen Rumänien verlassen?

Es bräuchte bessere Löhne, ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem. Daran muss die Regierung arbeiten. Zudem wollen die Menschen ein Mitspracherecht haben. Sie müssen merken, dass sie gehört und ernst genommen werden, dass das Land ihnen etwas gibt. Dann geben sie im Gegenzug dem Land etwas zurück. Das kann schon im Kleinen von Bedeutung sein. Mich hat mein Engagement im Jugendverband beispielsweise sehr geprägt. Dieses Gefühl, Teil von etwas zu sein, zu realisieren, dass ich wichtig bin, dass ich Verantwortung übernehmen kann und muss – auch wenn ich einfach bei einer Veranstaltung Stühle aufstelle.

Die Abwanderung führt zu vielen Problemen. Trotzdem spüre ich Optimismus bei Ihnen für die Zukunft des Landes. Weshalb?

Es klappt nicht immer, hoffnungsvoll zu bleiben. Aber ich versuche, die Herausforderungen proaktiv anzugehen. Ich möchte meine Privilegien nutzen, um Menschen zu unterstützen, denen es weniger gut geht. Und ich kann sehen, wie meine Arbeit etwas bewirkt. Zum Beispiel wenn ich den Spitex-Dienst begleite. Die Gesichter der älteren Menschen hellen sich auf, wenn sie Besuch von der Pflegefachperson bekommen und mit ihr plaudern können. Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, verändern etwas in der Welt, oder zumindest in Rumänien. Und darauf bin ich sehr stolz.

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