«Das Dorf Sar'a, immer vor unseren Augen»

Das Gespräch mit Michael Kaminer führte Hanspeter Bigler, Bereichsleiter Kommunikation und Mobilisierung von HEKS und Co-Produzent des Films «Zwei Träume – eine israelisch-palästinensische Dorfgeschichte» 

Michael, du hast jahrelang die Gründungsgeschichte deines Kibbuz erforscht und einen Film darüber gedreht. Wie bist du auf diese Geschichte aufmerksam geworden? 
Als ich 40 Jahre alt geworden bin, stiess ich zufällig im Internet auf einen Text, in dem auf das Dorf Sar’a hingewiesen wurde, das vor der Gründung des Kibbuz Tzor’a hier bestanden haben soll. Das erstaunte mich wirklich, weil ich vorher nie etwas von einem solchen Dorf gehört hatte. Ich erinnere mich, dass ich zu mir sagte: «Eines Tages werde ich zu dieser Geschichte etwas machen!» Es hat allerdings ein paar Jahre gedauert.  
 

Du hast also erst Jahre später mit dieser Arbeit begonnen? 

Ja, es hat zwei oder drei Jahre gedauert. Auslöser waren ein paar Begegnungen. Ich erinnere mich, dass ich am Eingangstor des Kibbuz ein paar Arbeiter traf, die an der Brücke arbeiteten, um sie zu renovieren. Ich begann mit ihnen zu reden, und einer von ihnen war aus der Gegend von Hebron. Er sagte mir, dass sein Vater hier geboren wurde. Das war das erste Mal, dass ich jemanden aus Sar’a getroffen habe. Ich dachte mir: «Hey, das ist kein Zufall. Dem muss ich nachgehen.»  

Etwas später kamen einige palästinensische Ärzte für einen zweimonatigen Hebräischkurs in unseren Kibbuz. Sie sollten Hebräisch lernen, damit sie in einem israelischen Krankenhaus arbeiten konnten. Sie besuchten jede Woche Familien im Kibbuz, um die Konversation auf Hebräisch zu üben. Ich meldete mich freiwillig, um jemanden aufzunehmen. So lernte ich Mohammed kennen. Auch sein Vater war hier geboren. Das fand ich sehr interessant und wollte deshalb einen Film über diesen Kurs machen. Aber Mohammed sagte zu mir: «Ich kann nicht in deinem Film mitmachen, weil mein Vater hier geboren wurde. Ich könnte etwas sagen, das die Gastgeber hier im Kibbuz verletzen würde, und das will ich nicht.» Und ich denke, das war ein weiterer Auslöser.  

Michael Kaminer: Traumfänger auf einer Reise in die eigene Geschichte
HEKS

Und das war der letzte Auslöser, der dich zu deinen Nachforschungen motiviert hat? 

Nein. Hast du noch Geduld für zwei weitere? (Lacht). Wir haben eine Facebook-Gruppe des Kibbuz, die allerdings nicht ich gegründet habe. Dort wurde zum 80. Geburtstag für einen der Gründer des Kibbuz eine spezielle Präsentation gepostet. Dieser Mann hatte die meisten Bilder aus der Gründungszeit des Kibbuz’ fotografiert. Einige davon kann man auch in meinem Film sehen. Ich erinnere ich mich bis heute daran, dass auf einem der Bilder, das den anderen Hügel des Dorfes zeigte, geschrieben stand: «Das Dorf Sar'a, immer vor unseren Augen». Und dann verstand ich. Sie lebten mit dem Dorf, und es störte sie die ganze Zeit.  

Und dann feierten wir jedes Jahr den Geburtstag des Kibbuz. Dieser Gründungstag ist der sechste oder siebte Dezember. Alle gehen auf den Hügel, wo das Dorf stand. Und wir nannten es: «Wir gehen zum alten Kibbuz Tzor’a». Sie machten einen grossen Geburtstagskuchen für den Kibbuz, und es wurde im Haus des Mukhtars, des früheren Dorfvorstehers, gefeiert. Ich erinnere mich, dass ich neben Ela sass, einer der Gründerinnen des Kibbuz, und ich begann mit ihr über die Fotos zu sprechen, die ich in dieser Präsentation gesehen hatte. Und sie begann zu erzählen: «Es war sehr schwer, hier zu leben. Wir mussten jede Nacht Wache schieben. Es war sehr beängstigend. Die Palästinenser versuchten die ganze Zeit, zurückzukommen, und wir hatten Angst. Wir war sehr froh, dass der Kibbuz später vom Hügel ins Tal verschoben wurde.» 

Ich habe dann ein paar Fotos gemacht und sie in die Facebook-Gruppe des Kibbuz’ gestellt. Einigen Leuten hat das gar nicht gefallen. Und sie schimpften: «Stellt hier nicht solche Fotos hinein und schreibt nicht von einem palästinensisches Dorf! Das ist nicht die Sache dieser Gruppe! Wir beschäftigen uns nur mit dem Kibbuz, nicht mit dem, was vorher war!» Und dann habe ich angefangen, mit ihnen heftig zu streiten. Ich verliess die Gruppe, gründete eine neue Facebook-Gruppe des Kibbuz und schrieb: «In dieser Gruppe könnt ihr jedes Foto veröffentlichen, das mit dem Kibbuz zu tun hat». Und heute ist es die eigentliche Facebook-Gruppe des Kibbuz.  

 

Das waren also deine Auslöser, um die Geschichte des Kibbuz zu erforschen? 

Es gab noch einen weitere. Ein amerikanischer Verwandter von Aronele, einem der Kibbuzgründer, kam in den Kibbuz und sagte zu mir: «Weisst du was? Du solltest das dokumentieren.» Und ich antwortete: «Du hast recht.» Und dann sagte er: «Ich schicke dir 500 Schekel. Fang an, es zu dokumentieren.» Und ich sagte: «Ok, du gibst fünfhundert und ich gebe fünfhundert.». Damit habe ich gestartet. Letztendlich kam zwar das meiste Geld von mir, aber es war ein Anfang. Und dann bin ich mit den Gründungsmitgliedern des Kibbuz auf den Hügel gegangen und habe einfach mit ihnen darüber geredet, was dort war. Ich wusste damals noch nicht, dass ich daraus einen Film machen würde. Die Idee war eigentlich, mit der Gründergeneration zu sprechen, um zu verstehen, warum sie uns all die Jahre nichts davon erzählt haben.  

 

Ich nehme an, es gab auch negative Reaktionen aus dem Kibbuz? Wie haben sie reagiert, als du an diesem Film gearbeitet hast? 

Nun, ich habe keinen Zettel an die Tafel des Kibbuz gehängt, um zu informieren, dass ich einen Film mache oder etwas in der Art. Ich habe ganz leise angefangen, habe einfach die Gründer des Kibbuz angerufen und ihnen gesagt: «Ich möchte nur, dass ihr, wenn ihr Zeit habt, mit mir auf den Berg geht und über das erste Jahr des Kibbuz sprecht. Und über die Beziehung zum palästinensischen Dorf.» Die meisten von ihnen waren sofort einverstanden, da sie im Ruhestand waren und Zeit hatten.  

 

In deinem Film ist ein Motto dieses Gedicht von Mahmoud Darwish, in dem es heisst: «Ist es nicht möglich, dass sich zwei Träume ein Schlafzimmer teilen können?» Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen? 

Ich war in einem Seminar mit 15 Palästinenser:innen und 15 Juden und Jüdinnen. Alle kamen mit einem eigenen Projekt und versuchten, mit der Unterstützung der anderen und der Seminarleitung einen Durchbruch im eigenen Projekt zu erzielen. Mein Projekt war der Film über den Kibbuz. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich tatsächlich ein wenig fest. Ich hatte viele Dreharbeiten hinter mir und der Film war noch nicht geschnitten. Und vor allem wusste ich nicht, wer das Publikum war, das ich mit diesem Film erreichen wollte.  

Erst in diesem Seminar habe ich verstanden, dass ich den Film vor allem für meine Gemeinschaft, die Kibbuzbewohner:innen, mache und für kein anderes Publikum. Im Seminar habe ich eine Frau getroffen und sie hat dieses Gedicht vorgetragen, und ich habe sie gebeten, es mir zu geben, weil ich es mochte. Die Worte haben mich berührt. Und seitdem mache ich mir das zu eigen.  

Und was bedeutet dieses Gedicht für dich?  

Vor allem bedeutet es, dass es mehr als ein oder zwei Narrative gibt. Im Film sieht man, dass sogar die Personen, die ich aus meinem Kibbuz interviewt habe, jeweils eine andere Erzählung haben. Jeder und jede hat sich seine eigene Geschichte zurechtgelegt, die geholfen hat, diese harte Realität zu überleben und mit ihr umzugehen. Eine der Erzählungen sagt: «Alle Häuser des Dorfes sind im Regen geschmolzen.» Und eine andere sagt: «Der Scheich war ein sehr harter Mann, der viele Sklaven hatte.» Wir sind also die guten Menschen, weil er derjenige war, der die Sklaven hatte. Jede Person baute so ihre eigene Erzählung auf. Aber ist es auch möglich, dass alle Erzählungen respektiert werden können? Dass ich die Erzählungen respektieren kann und dass ich die palästinensische Erzählung respektiere? Es ist wichtig, dass wir eine sichere Zone schaffen, in der alle Narrative Platz haben.  

 

Das kann ein inspirierender Ansatz sein. Ein Ansatz, der Dialog ermöglichen kann. Es ist ein Ausgangspunkt, wenn man die Erzählungen der anderen respektiert. Aber wie geht es danach weiter, um tatsächlich zu Resultaten oder zu Lösungen zu kommen? 

Nun, ich bin nicht arrogant. Ich sage nicht, dass ich eine Lösung für etwas habe. Ich weiss nur, dass wir anfangen müssen, darüber zu reden, vor allem darüber zu reden, worüber wir nie sprechen. Im HEKS-Film über mich wird Nir Barazani gezeigt, ein Lehrer aus dem Kibbuz Sasa. Ich habe ihn gefragt, warum er mich in seinen Kibbuz eingeladen hat. Und er sagt: «Weil wir auch über Dinge reden wollen, über die niemand spricht.» Wenn niemand darüber spricht, bedeutet das, dass wir darüber sprechen müssen. So habe ich seine Worte aufgenommen. Es ist wirklich so einfach: Niemand redet und wir müssen herausfinden, warum. Wir müssen den Dialog suchen!  

 

Es ist sicher erstaunlich, dass eine Gemeinschaft anfängt, über Dinge zu sprechen, die vor 70 Jahren passiert sind und über die vorher niemand gesprochen hat. Es scheint, dass so Türen geöffnet werden können. Aber was kommt danach? 

Gute Frage. Nun, in meinem Traum soll es ein Treffen geben im Schlafzimmer. Vielleicht von jungen Menschen, weil ältere Menschen ein bisschen müde sind? Vielleicht treffen junge Leute aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Qalandia junge Leute aus meinem Kibbuz. Und sie beginnen, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir eine Zukunft schaffen können, die für uns alle funktioniert. Ich möchte ihnen aber nicht meine Lösung vorgeben. Ich habe meine eigene Vorstellung von der Zukunft, aber ich möchte, dass andere Menschen das gemeinsam schaffen. Und ich weiss, dass es ein Prozess ist, der eigentlich alleine beginnen sollte, denn wir sind die Zionisten des Kibbuz und sind noch nicht wirklich in den Prozess eingetreten, wir sind nicht im Dialog. Und die Palästinenser:innen in den Flüchtlingslagern, da bin ich mir sicher, haben mit ihrem täglichen Leben zu kämpfen, das sie unter der Besatzung führen. Sie denken nicht wirklich darüber nach, wie sie eine Zukunft in Sar'a aufbauen wollen. Es ist etwas, das sie zuerst selber verarbeiten müssen, und dann sollte es meiner Meinung nach zu einem Treffen kommen.  

Wir, die Menschen, die im Kibbuz Tzor’a geboren wurden, müssen die Verantwortung dafür übernehmen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Nicht weil wir die Einzigen sind, die dafür verantwortlich sind. Wir haben den Hügel nicht mit Waffengewalt besetzt, sondern wir haben ihn gehalten, und wir haben die Geflüchteten nicht zurückkommen lassen. Und wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen. Und eventuell mit den Opfern darüber sprechen, mit einem Opfer oder dem Enkel des Opfers. Und solange wir die Geschichte nicht abschliessen können, ist auch unsere Geschichte nicht vollständig, und das wirkt sich auf uns aus. Wir sind nicht vollständig in unserem Geist, und wir sind nicht vollständig in unseren Werten.  

 

Und glaubst du, dass es eines Tages zwei Träume in einem Schlafzimmer geben kann? 

Ja, sicher! Ich würde nicht heiraten, wenn nicht (lacht). Ganz im Ernst. Als Paare sind wir nicht immer einer Meinung. Und wir haben unterschiedliche Träume für die Zukunft. Vielleicht haben wir sogar unterschiedliche Träume von unserer Familie. Und trotzdem schlafen wir jede Nacht im selben Bett und haben diesen Traum, und wir respektieren den Traum des anderen. Die Frau wünscht sich vielleicht drei Kinder, der Mann möchte vielleicht nur eins. Es ist ein anderer Traum, aber sie schlafen zusammen im selben Schlafzimmer.  

 

Ja, aber du hast geheiratet, weil du deine Frau liebst. Und zwischen vielen Israelis und Palästinenser:innen gibt es keine Liebe, vielleicht sogar Hass. Das ist viel schwieriger. Und trotzdem denkst du, dass es möglich ist? 

Liebe entsteht, wenn man Menschen auf Augenhöhe begegnet. Wenn wir ihnen nicht begegnen, wenn wir jeden und jede hinter diesen grossen Mauern zurücklassen, dann wird die Liebe nicht kommen. Wir müssen irgendwann diese Mauern durchbrechen, so wie es in Berlin geschehen ist, und dort Liebe schaffen. Es ist ein langer Prozess, das weiss ich, aber es ist möglich, ich sehe es jeden Tag. Ich habe es erst gestern gesehen, als wir uns mit einer Gruppe von Palästinensern getroffen haben. Es waren drei Palästinenser, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Wir hatten sofort Kontakt und ich beendete den Abend im Haus eines Palästinensers. Wir wurden nach nur zwei Stunden Freunde. Nur wenn man sich trifft, kann man Freundschaften schliessen.  

 

Und noch eine letzte Frage: Du wirst in diesen Tagen vieles gefragt. Aber gibt es etwas, das du nie gefragt wirst? 

Warum wollte HEKS überhaupt einen Film über mich machen? Es ist nicht mein Charakter, im Mittelpunkt zu stehen und die Kamera auf mich gerichtet zu sehen. Ich bin es gewohnt, Fotograf und Filmregisseur zu sein, also hinter der Kamera zu stehen, und plötzlich stehe ich davor. Es war überhaupt nicht einfach für mich, bis zum letzten Moment. Aber es war sehr interessant und ich danke dir und deinem Team sehr dafür. Dass du, wie ich schon sagte, mir vertraut hast und dich auf dieses Projekt eingelassen hast, obwohl du wusstest, dass ich von meinem Charakter her ein bisschen anarchistisch bin und nicht sehr schweizerisch denke. Und dass du mir vertraut hast und trotzdem deine Vision hast. Du hast etwas in deinem Kopf gesehen, was wir in diesem Film sehen. Vielleicht war mein Traum ein bisschen anders als deiner, was den Film angeht, aber trotzdem bin ich sehr glücklich darüber, ich bereue nichts. Mir gefällt, dass der HEKS-Film eine Verbindung herstellt zu meinem Film und meiner Arbeit. Und ich bin überzeugt, dass er einen Dialog auslösen und Menschen berühren kann, die wir noch nicht kennen, damit sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen und selber aktiv werden wollen. 

Vielen Dank Michael für das Interview!

Kontakt Hanspeter Bigler
Hanspeter Bigler

Hanspeter Bigler leitet bei HEKS den Bereich Kommunikation & Mobilisierung.