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Fokus

Landrechte kann man nicht kompensieren

Klimakompensation und Landgrabbing

«Für jeden verkauften Artikel pflanzen wir einen Baum.» Hinter solchen Klimakompensations-Versprechen steckt die Idee, dass wir ausgestossenes CO2 der Atmosphäre wieder entziehen können. So soll ein Gleichgewicht entstehen und kein Treibhausgas – «Netto Null» – in der Luft bleiben. Dieser Ansatz zur Bekämpfung der Klimakrise klingt verführerisch einfach, fair und effizient. Doch das ist er leider nicht. 

«Netto-Null» braucht zu viel Land 

Netto-Null-Versprechen von Firmen oder Staaten befeuern die globale Nachfrage nach Land. Denn um CO2 im grossen Stil aus der Luft zu speichern, braucht es heute Land in riesigen Mengen: Boden, der das CO2 speichert oder auf dem Bäume gepflanzt werden können, die CO2 der Luft entziehen. 
 
Das sind keine guten Neuigkeiten für die Menschen, die auf und von diesem Land leben. Es führt oft dazu, dass Kleinbauern- oder Hirtenfamilien im globalen Süden die Kontrolle über ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage verlieren oder gar vertrieben werden. Man spricht bei solch grossflächiger Landergreifung auch von Landgrabbing. Von den Projekten wie Aufforstung, die auf ihrem Land umgesetzt werden, profitieren die betroffenen Menschen selten, die im globalen Kohlestoffmarkt aktiven Unternehmen – bisher vor allem Akteure aus dem globalen Norden – hingegen sehr. Dabei kann die CO2-Speicherung die Welt nicht vor der Klimakrise retten, solange wir weiter Treibhausgase ausstossen. Stattdessen akzentuieren sich durch solche Kompensationsbestrebungen auf lange Sicht Ungerechtigkeiten. Der Hunger verschärft sich, Biodiversität geht verloren, und die Rechte lokaler und indigener Menschen werden bedroht. 

…und tritt die Klimagerechtigkeit mit Füssen 

Die meisten dieser Klimakompensationsprojekte werden im globalen Süden umgesetzt, denn das ist günstiger und einfacher. Das bedeutet auch: Die Verursacher der Klimakrise – Akteure aus dem globalen Norden – kompensieren ihren CO2-Ausstoss bei denjenigen Menschen, die selbst am wenigsten CO2 ausstossen und also am wenigsten zum Klimawandel beitragen. Und brauchen dafür deren Land.

Dabei funktionieren viele Klimakompensationsprojekte nicht einmal. Sie tragen weit weniger zur Reduktion von CO2 in der Atmosphäre bei, als sie versprechen. So geht die Rechnung nicht auf: Durch ihren unverminderten CO2-Ausstoss befeuern Emittenten trotz vermeintlichem Nullsummenspiel den Klimawandel. Von den verheerenden Folgen am meisten betroffen sind wiederum die Menschen im globalen Süden. So akzentuieren sich Ungerechtigkeiten. Der Hunger verschärft sich, Biodiversität geht verloren, und die Rechte lokaler und indigener Menschen werden bedroht. 

 

 

CO2 reduzieren statt kompensieren! 

HEKS steht an der Seite der lokalen und indigenen Menschen. Mit ihnen muss sich der globale Norden solidarisch zeigen. Mit lokalen Partnerorganisationen unterstützt HEKS sie dabei, ihre Landrechte einzufordern und sich dem Klimawandel anzupassen. Klimakompensation ist keine Lösung, sondern eine gefährliche Ablenkung von dem, was dringend nötig wäre: CO2 sofort zu reduzieren statt zu kompensieren. Nur so kann die Klimakrise gerecht und im Einklang mit Land- und Menschenrechten bekämpft werden.  

Die Hintergründe

Wie hängen Klimakompensation, Land- und Menschenrechte genau zusammen? Die sieben wichtigsten Fragen und Antworten zu einem so elementaren wie komplexen Thema.

Treibhausgas, das an Ort A in die Atmosphäre gelangt, wird an Ort B durch die Unterstützung eines entsprechenden Klimaprojekts eingespart. Diese «Kompensation» kann auf zwei Arten erfolgen: 


a.    Es wird eine Tonne CO2 weniger ausgestossen (d.h. vermieden), zum Beispiel durch Projekte, die die Abholzung von Wäldern verhindern oder fossile Energie einsparen.


b.    Eine Tonne CO2 wird der Atmosphäre entnommen (d.h. gebunden). Dies geschieht zum Beispiel durch Aufforstung oder Speicherung von CO2 im Boden. Durch den Abbau von CO2soll sich ein Gleichgewicht einstellen, wobei «Netto-Null»-Emissionen in der Atmosphäre verbleiben. Dieser Ansatz gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Die wichtigsten Definitionen der Begriffe zu diesem Thema sind hier zu finden.
 

Der Netto-Null-Ansatz wird zu einem immer wichtigeren und unverzichtbareren Ansatz in Verhandlungen und globalen Szenarien zur Bewältigung der Klimakrise. Weil verbindliche Ziele zur Reduktion von Treibhausgasemissionen nicht erreicht werden konnten, muss der weltweite Ausstoss nun noch schneller reduziert werden. Im März 2023 warnte der Weltklimarat (IPCC), dass wir ohne «tiefgreifende, schnelle und anhaltende»  Emissionsreduktionen bis 2030 keine Chance haben, die Klimakatastrophe zu verhindern. 


Vor diesem Hintergrund ist die Versuchung gross, auf den Netto-Null-Ansatz zu setzen und der Atmosphäre das ausgestossene CO2 wieder zu entziehen. Unternehmen und Staaten können damit mehr oder weniger so weitermachen wie bisher: Treibhausgase ausstossen, Profite erzielen und dies durch Ausgleichsmechanismen, welche die ausgestossenen Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen sollen, kompensieren. Dafür werden jedoch riesige Mengen an Land benötigt.

Es ist mit rein technischen Lösungen (noch) nicht möglich, CO2 in grossem Umfang der Luft zu entnehmen. Derzeit ist die CO2-Speicherung weitgehend auf natur-basierte Lösungen – die Bindung von CO2 in Pflanzen und Böden – angewiesen. Und dafür wird viel Land benötigt. Um die heutigen jährlichen Emissionen von etwa 40 Milliarden Tonnen CO2 weltweit so zu kompensieren, müssten jedes Jahr 40 Milliarden Bäume gepflanzt werden. In 80 Jahren würde sich die Anzahl der Bäume auf der Welt damit verdoppeln.


Obwohl es sinnvolle Projekte zur CO2-Bindung gibt, birgt jedes Netto-Null-Ziel oder -Versprechen einer Firma oder eines Staates die Gefahr, die globale Nachfrage nach Land anzuheizen. Um die Pläne aller Regierungen der Welt bis 2060  umzusetzen, müssten weltweit rund 1.2 Milliarden Hektar Land  zur Bindung von CO2 genutzt werden können – eine Fläche, die dem gesamten Ackerland unseres Planeten entspricht! Obwohl die Hälfte davon zur Verbesserung von ausgelaugten Böden und degradierten Ökosystemen und Wäldern genutzt werden soll, damit diese CO2 besser speichern: Die andere Hälfte – nämlich 633 Millionen Hektar – müsste umgenutzt und aufgeforstet werden. Gleichzeitig verpflichtet sich eine rasch wachsende Zahl von Unternehmen zu Netto-Null. So würde zum Beispiel die Umsetzung der Vorhaben der Energiekonzerne BP, Shell, TotalEnergies und Eni zusammen bis 2030 eine Fläche von der Grösse des gesamten Vereinigten Königreichs erfordern.  


Woher genau sie dieses Land zu nehmen gedenken, steht in der Regel nicht in den Netto-Null-Versprechen («pledges») der Regierungen und Unternehmen. Wahrscheinlich wird es ihnen nicht gelingen, genügend Land für eine so umfangreiche Flächenumnutzung zu finden. Dies könnte ihnen die Einhaltung ihrer Emissionsverpflichtungen erschweren und damit die Klimakrise noch verschärfen. 

Wenn Unternehmen und Regierungen dieses Land finden – oder es auch nur versuchen –, erhöht sich der Druck auf Land dramatisch. Angesichts aktueller Machtstrukturen wirkt sich das vor allem auf Land aus, das von indigenen Gemeinschaften oder kleinbäuerlichen Familien genutzt wird. Netto-Null-Zusagen können so dazu führen, dass heute für den Nahrungsmittelanbau genutztes Land dafür nicht mehr zur Verfügung steht, die Ernährungssicherheit beeinträchtigt wird und sich der Hunger in benachteiligten Gemeinschaften verschärft. Darüber hinaus drohen der Verlust von Biodiversität, die Verknappung der Wasserressourcen und die direkte Gefährdung der Rechte lokaler und indigener Gemeinschaften. Dies spüren die betroffenen Menschen bereits heute. 


Wenn im Namen von Netto-Null aufgeforstet wird, entstehen selten artenreiche Wälder, die sowohl für die Menschen als auch für das globale Ökosystem so wichtig wären. Vielmehr werden oft schnell wachsende Baum-Arten gepflanzt für eine möglichst rasche Speicherung von CO2. Solche Baum-Monokulturplantagen (manchmal auch «grüne Wüsten» genannt) – ob für Kautschuk, Palmöl oder CO2-Zertifikate – sind eine Katastrophe für Mensch und Natur. Menschen werden von ihrem Land vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage. Ihnen fehlt Land, um Nahrungsmittel anzupflanzen. So fällt ihr Einkommen plötzlich weg, was sie daran hindert, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Darüber hinaus führen solche Plantagen häufig zur Verschmutzung oder Verknappung des Wassers für den täglichen Gebrauch. HEKS arbeitet mit zahlreichen Gemeinschaften zusammen, die in der Umgebung solcher Grossplantagen leben.


In anderen Fällen verlieren die Menschen nicht direkt ihr Land, sondern die Kontrolle darüber. Von einem Tag auf den anderen stellen Konzerne Regeln auf darüber, wie Bäuerinnen und Bauern beispielsweise in Brasilien oder indigene Gemeinschaften in Peru ihr eigenes Land nutzen dürfen. Die NGO «Survival International» beschreibt in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, wie ein Unternehmen im Norden Kenias die Kontrolle über Millionen von Hektaren Land übernommen hat, auf dem zuvor Hirt:innen gelebt haben. Die Firma behauptet – ohne jede wissenschaftliche Grundlage –, dass ihr neues Weidesystem im Vergleich zu traditionellen Weidepraktiken Millionen von zusätzlichen Tonnen CO2 im Boden speichern würde. Bewaffnete Ranger patrouillieren im Gebiet, um die neuen Regeln durchzusetzen. So gibt es keinerlei Diskussion darüber, ob die lokale Bevölkerung damit einverstanden ist. Ein betroffener Hirte stellt deshalb treffend fest: «Diese Leute haben unsere Luft verkauft.»  

Es sind in diesem System vor allem kleinbäuerliche Familien, Hirt:innen und indigene Menschen im globalen Süden, die gezwungen werden, ihre Lebensweise und traditionellen Methoden der Wald- und Landbewirtschaftung aufzugeben. Erstaunlicherweise werden ihre Praktiken nun häufig als Hauptursache für Abholzung dargestellt – obwohl sie im Gegenteil Wälder und Bodenfruchtbarkeit erwiesenermassen erhalten.


Das Land, das Gemeinschaften im globalen Süden gehört, wird fälschlicherweise oft als «ungenutztes» und somit verfügbares Land angesehen, und selbst wenn es genutzt wird, ist es günstig zu haben. Weil Landrechte in vielen Ländern des Südens nicht klar genug geregelt sind, können entsprechende Gesetze einfach umgangen und die Rechte der Menschen leicht verletzt werden. Zusätzlich machen globale Ungleichheiten die Regierungen anfälliger für solches «Landgrabbing», bei dem Unternehmen und Investor:innen die Kontrolle über grosse Flächen Land übernehmen. All dies trifft letztlich diejenigen Menschen, die am wenigsten zur globalen Klimakrise beigetragen haben.


Agrarfirmen gelingt es derweil sogar, ihr gewaltvolles System industrieller Baumplantagen grün zu waschen und als Musterbeispiel für CO2-Speicherung und die Bekämpfung der Klimakrise zu verkaufen. Die Unternehmen und reiche Regierungen, die bei weitem grössten CO2-Emittenten, machen weiter Profit  – auch mit grossflächiger Abholzung – und heizen die Klimaerwärmung an.  Der Ölkonzern Shell beispielsweise, der ebenfalls in den Netto-Null-Ansatz investiert, erzielte im Jahr 2022 den höchsten Gewinn seit seiner Gründung vor 115 Jahren.


Ermöglicht wird dieses System durch handelbare CO2-Zertifikate. Sie erlauben es Firmen und Staaten, weiterhin CO2 auszustossen, solange sie für die «Kompensation» dieser Emissionen an einem anderen Ort bezahlen. Und dieser globale Kohlenstoffmarkt – ein wachsendes Geschäft von geschätzten 7,7 Milliarden US-Dollar – wird bis jetzt von Akteur:innen aus dem globalen Norden dominiert, welche diese Zertifikate verkaufen und verifizieren. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass die lokalen Gemeinschaften, auf deren Land diese Projekte stattfinden, allzu oft kaum davon profitieren. So wird das kolonialistische und profitorientierte Wirtschaftssystem weitergeführt, das die Klimakrise in erster Linie verursacht hat. Deshalb sprechen viele von «Kohlenstoffkolonialismus».
 

Klimakompensation bedingt, dass eine ausgestossene Tonne CO2 direkt mit einer in einem Baum gebundenen Tonne CO2 verglichen werden kann. Dieser Vergleich funktioniert jedoch nur unzureichend. Die Gefahr ist gross, dass die tatsächlich gespeicherte CO2-Menge eines Projekts viel geringer ist als angenommen und in den entsprechenden Emissionsgutschriften falsch ausgewiesen wird. So hat 2023 eine Investigativ-Recherche  von Journalist:innen des Guardian, der ZEIT und von SourceMaterial ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Regenwaldzertifikate einer grossen Zertifizierungsorganisation nichts dazu beigetragen haben, das CO2 in der Luft zu reduzieren.


Das grösste Problem ist die Langfristigkeit der CO2-Bindung: CO2 bleibt in unterirdischen fossilen Ablagen stabil und dauerhaft gespeichert, während die Speicherung von CO2 in Pflanzen und Böden vorübergehend und schwankend ist. Einmal ausgestossen, beeinflusst CO2 die Atmosphäre über Tausende von Jahren. Ein Baum bindet es hingegen nur, bis er zerfällt. Wie ist sichergestellt, dass der Baum über die Jahrhunderte gepflegt, nicht abgeholzt und vor Waldbränden und Dürren geschützt wird? Wer übernimmt die Verantwortung dafür?


Ausserdem funktioniert Kompensation nur dann, wenn das CO2 durch das konkrete Projekt zusätzlich gebunden wird, also ohne das Projekt nicht eingespart würde. Das ist jedoch reine Spekulation: Es lässt sich nicht beweisen oder belegen. Um mehr CO2 gutschreiben zu können, werden zum Beispiel bei Projekten, die Wald schützen sollen, die Gefahr der Abholzung oft als zu gross und die Praktiken der lokalen Gemeinschaften als zu schädlich und unflexibel dargestellt. Es kommt auch vor, dass sich die Abholzung auf ein benachbartes, nicht geschütztes Stück Land verlagert – und sich somit an der Gesamtsituation nichts ändert.
 

In erster Linie müssen wir alles tun, um den weltweiten CO2-Ausstoss auf gerechte Art und Weise zu reduzieren. Gleichzeitig ist es wichtig, CO2 der Atmosphäre zu entnehmen und weitere Methoden dafür zu entwickeln. Die Wiederherstellung von Wäldern und Ökosystemen sowie die Erhaltung und Schaffung agrarökologischer, nachhaltiger Nahrungssysteme sind wichtige Schritte in diese Richtung. Diese Lösungen existieren bereits, und viele kleinbäuerliche Familien, indigene Völker und Wissenschaftler:innen überall auf der Welt praktizieren sie. Solche partizipativen und menschenrechtsbasierten, wirksamen und nachhaltigen Klimaprojekte gilt es zu unterstützen.


Klimakompensation im grossen Stil, die Regierungen und Unternehmen als Ersatz für drastische Reduzierungen handeln, funktioniert hingegen nicht. Der Bedarf an Land für Netto-Null hat vielmehr drastische Folgen für die Biodiversität, die Ernährungssicherheit und – entscheidend – für die Rechte und Einkommen von Menschen im globalen Süden.


Wenn Netto-Null-Ziele als Vorwand dienen, um Emissionsreduktionen und einen Stopp der Förderung fossiler Brennstoffe aufzuschieben, verschärfen sie die Klimakrise. Deren katastrophalen Folgen treffen vor allem diejenigen Menschen, die bereits in diesem verstärkten Kampf um Land an vorderster Front stehen. Mit diesen Gemeinschaften müssen sich die Menschen im globalen Norden solidarisch zeigen. 

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