«Diskriminierung hat viele Gesichter»

Katarina Stigwall ist Leiterin der HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung in der Ostschweiz. Im Gespräch erklärt sie, welche Auswirkungen Diskriminierung auf Betroffene hat und wie wir ihr im Alltag entgegentreten können.

Interview: Francesca Ursich und Corina Bosshard
 

Katarina, du bist gebürtige Schwedin, lebst aber seit über zehn Jahren mit deiner Familie in St. Gallen. Fühlst du dich als Teil der Schweiz?  
Ich habe das grosse Privileg gehabt, selbst wählen zu können und freiwillig hierher zu kommen. Ich habe mich immer willkommen gefühlt. Einzig, dass ich kein Stimmrecht habe, beschäftigt mich als Politikwissenschaftlerin. Wir wagen uns daher gerade an einen Einbürgerungsversuch.
 
Warum braucht es die Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung? 
Wir erhalten jedes Jahr über 60 Meldungen, Tendenz steigend. Das ist nur ein Bruchteil aller Vorfälle. Gemäss den neusten Zahlen des Bundes gibt fast ein Drittel der in der Schweiz lebenden Menschen an, dass sie Diskriminierung in irgendeiner Form erfahren haben. Ich erachte die Arbeit der Beratungsstelle daher als zentral. Nicht nur für die Unterstützung der Betroffenen, sondern auch um das Thema als solches zu beleuchten.

Katarina Stigwall im Gespräch
HEKS

Welche Fälle von Diskriminierung begegnen dir in deiner Arbeit? 
Diskriminierung hat viele Gesichter. Jeder Fall ist anders. Oft begegnen uns Vorfälle in der Schule. Wenn es einem Kind schlecht geht, dann braucht es schnelles Handeln. Ein zweiter Bereich, der immer wieder auftaucht, ist racial profiling. Das muss nicht immer durch die Polizei passieren, das kann auch im Alltag auftreten, etwa wenn jemand in Geschäften immer wieder zur Taschenkontrolle aufgefordert wird. Die Personen, die sich bei uns melden, haben oft schon viel durchgemacht und wissen nicht mehr weiter. 
 
Wie unterstützt ihr die Betroffenen konkret? 
Wir führen immer ein persönliches Gespräch, hören gut zu. Meist steckt hinter dem Vorfall, aufgrund dessen sich Betroffene melden, eine längere Geschichte. Manchmal gibt es Situationen, da möchte jemand nur von uns hören: «Ja, Ihre Erfahrungen sind real. Das, was Sie erlebt haben, ist rassistische Diskriminierung.» Zuhören und Bestätigen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Wir suchen, wenn die betroffene Person das wünscht, immer das Gespräch mit der diskriminierenden Person oder Institution. Oft kann man Sachen zwischenmenschlich lösen. Manchmal gibt es aber auch Fälle mit einer rechtlichen Dimension. Zum Beispiel, wenn es um Straftatbestände wie Hassrede oder Gewalt geht. Wir machen dann die Triage, damit die betroffene Person rechtliche Unterstützung erhält. 
 
Was geschieht auf emotionaler Ebene mit den Betroffenen? 
Bei Menschen, die ständig Diskriminierung erfahren, sehen wir einen gewissen Normalisierungsprozess. Viele entwickeln Strategien für den Alltag, um damit leben zu können – was mich persönlich sehr betroffen macht. Sie bewahren etwa ihre Quittung stets auf, weil sie immer wieder in Taschenkontrollen kommen. Die Auswirkungen können aber auch schwerwiegend sein, also etwa gesundheitlich. Es macht dich psychisch und physisch krank, wenn du immer wieder ausgegrenzt, nicht für voll genommen wirst.

Viele Menschen, die Diskriminierung erfahren, entwickeln Strategien für den Alltag, um damit leben zu können – was mich persönlich sehr betroffen macht.

Diskriminierung verursacht also auch Kosten für die gesamte Gesellschaft.
Von der OECD wird Rassismus sogar als «gesellschaftsgefährlich» klassifiziert. Ja. die gesellschaftlichen Auswirkungen sind sehr real. Für das Gesundheitssystem, für den Arbeitsmarkt, der qualifizierte Kräfte verliert. Dass Menschen die gleichen Rechte haben, ist eine Voraussetzung für einen Rechtsstaat. Wenn wir gewisse Gruppen nicht zu Wort kommen lassen, dann fehlt eine wichtige Dimension. Das können wir uns als Gesellschaft nicht leisten, denn wir alle machen die Schweiz aus.   

Das heisst, wir müssen uns als Gesellschaft aktiv darum bemühen, Diskriminierungen entgegenzuwirken. Zum Beispiel im Alltag: Wie erkennen wir, dass eine rote Linie überschritten wurde? Und wie können wir reagieren?
Jemand hat mich einmal gefragt: «Woher weiss ich, dass es mehr als ein Scherz ist?». Ich habe gesagt, «wenn es für dich nicht mehr lustig ist, dann ist es kein Scherz mehr». Ich glaube, es liegt in unser aller Verantwortung, überlegt unterwegs zu sein. Und klar, es ist nicht immer einfach, richtig zu reagieren. Man steht vielleicht in einer Gruppe, scherzt, es fällt ein Spruch. Man kann sagen, «Du, das finde ich nicht lustig.» Oder wenn es in der Öffentlichkeit passiert und jemand offensichtlich beschimpft wird: «Sie machen sich da gerade strafbar.» 
 
Wie tragen wir als Gesellschaft dazu bei, dass sich alle als Teil der Schweiz fühlen?
Letztendlich geht es ganz einfach ums Zusammenleben. Inklusion passiert um uns herum. Für mich geht es darum, wie wir miteinander sprechen, wie wir einander begegnen, wie wir einander helfen. Wir leben ja ohnehin zusammen, das ist Tatsache. Und ich denke, was wir uns alle wünschen, ist Frieden. Mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Wir teilen diese Gesellschaft. Ich gewinne auch, wenn es dir gutgeht.

 

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HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung
Projekt Kantone St.Gallen, beide Appenzell und Thurgau
HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung

Die Beratungsstelle unterstützt Personen und Institutionen, welche Fragen zum Thema Diskriminierungsschutz haben, von rassistischer Diskriminierung betroffen sind oder der rassistischen Diskriminierung beschuldigt werden. 

Kostenlose Beratungen

Die HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung bietet kostenlose Beratungen für Personen und Institutionen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind oder beschuldigt werden. Sie setzt sich auch für Sensibilisierung und Prävention ein.

Ab Sommer 2023 wird der «Ich doch nicht ...! HEKS Werkzeugkoffer für einen diskriminierungsfreien Berufsalltag» eingeführt. Der Werkzeugkoffer bietet interaktives Material für einen niederschwelligen Umgang mit Fragen der Diskriminierung und des Rassismus in unserem Alltag. Werden wir uns der eigenen Haltung in der Begegnung mit Menschen bewusst, tragen wir aktiv dazu bei, Situationen rassistischer Diskriminierung zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.

Der Werkzeugkoffer kann bei der Beratungsstelle bestellt werden: beratungsstelle-diskriminierung@heks.ch

Katarina Stigwall in einem Beratungsgespräch
HEKS