Still aus dem Film Die Anhörung
Blogbeitrag von Meret Adam vom 20.02.2024

«Denken Sie, dass das Asylsystem in der Schweiz wirklich fair ist?»

«Denken Sie, dass das Asylsystem in der Schweiz wirklich fair ist?»

Wer seine Gefährdung im Herkunftsland glaubhaft und widerspruchsfrei schildert, hat bessere Chancen, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Sind gute Erzähler:innen deshalb im Vorteil? Dieser Frage geht Regisseurin Lisa Gerig im Dokumentarfilm «Die Anhörung» nach. Sie lässt vier Asylsuchende zusammen mit Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM) die eigene Anhörung nachspielen. Das Resultat ist ein aufrüttelnder Film, der das Schweizer Asylverfahren infrage stellt.

HEKS hat in Kooperation mit den Filmschaffenden drei Spezialvorführungen mit Podiumsgesprächen veranstaltet. Mit Meret Adam, Leiterin der «Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende», und Elia Menghini von der «Rechtsberatungsstelle für Asylrecht Ostschweiz» haben zwei HEKS-Spezialist:innen für das Schweizer Asylwesen an den Podien teilgenommen. 

Lesen Sie nachfolgend die Einordnung von Meret Adam. 

Portrait Meret Adam
Meret Adam

Meret Adam leitet die Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende (HEKS).

«Denken Sie, dass das Asylsystem in der Schweiz wirklich fair ist?» Diese provokative, aber berechtigte Frage stellt eine ehemalige Asylsuchende einer Mitarbeiterin des Staatssekretariats für Migration (SEM) im aktuell im Kino laufenden Film «Die Anhörung». Die Frage bleibt unbeantwortet. 

Der Dokumentarfilm zeigt Ausschnitte nachgestellter Befragungssituationen mit realen Asylsuchenden und realen Befragenden. Im zweiten Teil des Films findet ein Seitenwechsel statt, die Asylsuchenden übernehmen die befragende Rolle. Die Mitarbeitenden des SEM beantworten einige der Fragen, andere lassen sie offen. 

Im Rahmen des Rechtsschutzmandats des SEM begleiten die Jurist:innen der kantonalen HEKS-Rechtsberatungsstellen regelmässig Klient:innen im erweiterten Asylverfahren an ihre Anhörungen. Dieses Kernstück der Abklärungen im Asylverfahren ist eine grosse Herausforderung für die Betroffenen. Die Anhörung kann aufwühlend und emotional sein, die Asylsuchenden müssen das Erlebte unter Zeitdruck komprimiert, aber dennoch genügend ausführlich schildern. Der Film zeigt diese Realität teilweise gut. 

Ich bin froh, dass es den Film gibt. Interessierte erhalten einen Einblick ins Asylverfahren bzw. die Anhörungssituation.

Ich bin froh, dass es den Film gibt. Interessierte erhalten einen Einblick ins Asylverfahren bzw. die Anhörungssituation. Meine Erfahrung zeigt auch, dass der Film zu Diskussionen anregt – und das ist gut so. Allerdings kann der Film nur einen Teil der Situationen in den Anhörungen wiedergeben. Es werden starke und bildungsnahe Asylsuchende gezeigt, die das Erlebte entsprechend gut und nachvollziehbar schildern können. 

In der Realität ist dies nicht immer so: Vulnerable oder ängstliche Asylsuchende, Asylsuchende ohne Bildungshintergrund oder unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) zeigen sich in der Befragungssituation oft anders. Viele erzählen das Erlebte nur kurz. Sie riskieren damit, dass ihr Asylgesuch abgelehnt wird, weil ihre Aussagen als nicht genügend detailliert und damit unglaubhaft eingestuft werden. Ich erinnere mich auch an Klient:innen, denen schlicht die Worte fehlten, da sie das Erlebte noch nie jemandem erzählt hatten. Oder an Jugendliche, die provokativ zurückfragten, weshalb so viele Fragen gestellt würden, sie würden lieber draussen Fussball spielen. Oder an Asylsuchende, die von Erlebnissen berichten mussten, die kaum aushaltbar sind. Ausserdem wirken die Befragenden des SEM im Film erfahren und reflektiert in ihrer Aufgabe. Es entsteht der Eindruck einer ruhigen Anhörungsatmosphäre und von wenig Konfrontation. Auch das erleben wir manchmal anders. 
 

Es entsteht der Eindruck einer ruhigen Anhörungsatmosphäre und von wenig Konfrontation. Auch das erleben wir manchmal anders.

Zurück zur Frage: Ist das Asylverfahren fair? Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Ansichten und Antworten – und das darf es auch. Fakt ist: Jede asylsuchende Person hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung, es gibt eine – jedoch nur eine – Beschwerdemöglichkeit, es besteht das Recht auf Übersetzung und die Verfahren werden in aller Regel dem Recht entsprechend geführt. Ob diese Vorgaben jedoch in jedem Einzelfall zu einem fairen Verfahren führen, ist eine andere Frage. Ich würde mir wünschen, dass die befragenden SEM-Mitarbeitenden vertiefter geschult sind im Umgang mit Personen mit Traumata und dass auf entsprechende Bedürfnisse der Asylsuchenden im Einzelfall eingegangen wird, damit der Sachverhalt umfassend abgeklärt werden kann. Ausserdem wäre in meinen Augen eine Aufzeichnung der Anhörungen wichtig, damit Übersetzung und Protokollführung überprüft werden können. 

Wir Jurist:innen der kantonalen Rechtsberatungsstellen bereiten die Anhörung in einem Gespräch mit unseren Klient:innen vor, begleiten sie und vertreten sie anwaltschaftlich. Bereits dies kann für die Asylsuchenden einen grossen Unterschied machen. Ausserdem führen wir Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht, wenn das Verfahren unseres Erachtens nicht rechtmässig und damit nicht fair abgelaufen ist. Die Einführung der unentgeltlichen Rechtsvertretung ist daher ein grosser Fortschritt.

Nicht verhindern können wir, dass unsere Klient:innen nach den Anhörungen oft alleine zurück in die temporäre Asylunterkunft reisen müssen und monatelang im Ungewissen bleiben über ihre Zukunft. 

Was ich persönlich vom Film mitnehme, ist die Frage der Betreuung nach der Anhörung. Ein Asylsuchender berichtet im Film und auch auf dem HEKS-Podium eindrücklich, wie «nackt» und alleine er sich nach der Anhörung fühlte, als man ihm erklärte, er könne nun gehen. Der Rechtsvertretung ist es bedingt möglich, diese Lücke zu schliessen, indem unsere Klient:innen uns auch nach der Anhörung kontaktieren können und wir sie über die folgenden Verfahrensschritte informieren. Nicht verhindern können wir, dass unsere Klient:innen nach den Anhörungen oft alleine zurück in die temporäre Asylunterkunft reisen müssen und monatelang im Ungewissen bleiben über ihre Zukunft. 

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